Die Geschichte von VivaVita


Die Geschichte von VivaVita hat etwas mit Worten zu tun. Sie beginnt mit einem deutsch-österreichischen Sprachmißverständnis, hat ihren Höhepunkt in einer Namensänderung mit wunderbaren Folgen, aber endet leider in wortloser Traurigkeit.

Als meine Frau und ich, gebürtig aus Berlin bzw. Hamburg, vor zwanzig Jahren das erste Mal zu unserem jetzigen Heimatort in der Nähe von Salzburg fuhren, erregte bei der Durchfahrt des Nachbardorfes ein holzgeschnitztes Schild unsere Aufmerksamkeit: "Urlaub am Bauernhof" hieß es und dies verwunderte uns sehr, denn wir kannten natürlich aus Deutschland schon die Möglichkeit, daß man Urlaub auf dem Bauernhof machen kann. Doch was war wohl Urlaub am Bauernhof, war das eine Ferienunterkunft neben einem Bauernhof? Nicht lange danach lasen wir in einem Zeitungsartikel über den Werdegang eines Politikers „am Weg nach oben“ und lernten daraus, daß das österreichische “am“ das deutsche „auf dem“ bedeutet und es sich also um einen bäuerlichen Ferienhof handelte.

Was dies nun mit VivaVita zu tun hatte, offenbarte sich erst etliche Jahre später, als es meiner Frau nämlich nach unendlich langem guten Zureden doch gelang,die Besitzer eben dieses Bauern- und Ferienhofes davon zu überzeugen, ihre derzeitige Katze auf unsere Kosten kastrieren zu lassen. Alle Bauern in der Nachbarschaft hatten schon für ihre Katzen zugestimmt, und wir konnten ruhiger schlafen, weil wir wussten, dass keine kleinen Kätzchen mehr „beseitigt“ wurden. Nur dieser Hof hatte sich immer wieder geweigert, mit dem Argument, man müsse doch „der Natur ihren Lauf lassen“. Wir glaubten eher, daß sie für die Kinder der Feriengäste gerne jede Saison wieder kleine Kätzchen haben wollten. Da der Hof aber direkt an einer Durchgangsstraße liegt, war ihren Katzen meist kein langes Leben vergönnt. Doch diese Katze war ihnen wohl ein wenig mehr ans Herz gewachsen als die Vorgänger, weil sie besonders freundlich, niedlich, überaus lebendig und wohl auch irgendwie einzigartig war, so daß sie schließlich in die Kastration einwilligten. Ja, so nennt man das auch bei weiblichen Katzen, wenn nicht nur die Eileiter unterbrochen werden (=Sterilisation), sondern die Eierstöcke entfernt werden, damit die Katze auch nicht mehr rollig wird.

Meine Frau fuhr mit der Katze nach München zum Kastrieren und da die Katze keinen richtigen Namen hatte, meldete sie sie einfach als "Ferienhof" an, damit wir bei den Telefonanrufen aus der Klinik sofort wußten, um wen es ging. Sie war wohl zu diesem Zeitpunkt sieben Monate alt und sollte nach der OP natürlich zurück zu ihren Besitzern. Die Kastration verlief ohne Probleme.

Für eine Woche nach der Operation bis zum Ziehen der Fäden behielten wir die kleine „Ferienhof“ bei uns. Wir hatten sie in das kleine Vorderzimmer in unserem „Arbeitshaus“ einquartiert, damit sie ihren Bewegungsdrang nicht voll ausleben konnte. Aber sie flitzte trotzdem gleich nach der Operation so schnell umher, wie wir es zuvor noch bei keiner anderen Katze erlebt hatten. Man konnte ihr kaum mit den Augen folgen, so flink war sie. Dabei war sie gleichzeitig zutraulich und verschmust über alle Maßen und forderte energisch ihre Streicheleinheiten ein. Man merkte sofort, daß sie eine überdurchschnittlich wache und intelligente Katze war.

Einmal sah ich beim Vorbeigehen durch die Türfenster, wie sie in ein Bücherregal hinein sprang und sich dabei so mit den Vorderpfoten festkrallte, daß ihr ganzer Leib daran herunterhing. Als meine Frau dann ein paar Tage später zum Entfernen der OP-Fäden in die Klinik fuhr, stellte man dort fest, daß sie sich einen Leistenbruch zugezogen hatte. Wahrscheinlich durch ihre Bücherregal-Attacke.

Der Leistenbruch mußte sofort operiert werden. Da es sich um einen Routineeingriff handelte, dachten wir uns nichts Böses. Umso erschrockener waren wir aber, als wir ein paar Stunden später eine telefonische Schreckensmeldung erhielten. Bei der OP waren Atmung und Herzschlag „weggeblieben“. Nicht nur ein paar Minuten, wie es vorher unserem Kater Mogli schon mal passiert war, sondern über 10 Minuten, so daß die Lunge in sich zusammen gefallen war. Durch Elektroschocks stellte sich schließlich doch wieder ein Herzschlag ein, aber keine Atmung. Die kleine „Ferienhof“ lag im Koma und wurde im Sauerstoffzelt künstlich beatmet. Jeden Tag hörten wir, daß sie noch nicht aufgewacht war. Am neunten (!) Tag sagte die Ärztin, daß sie nur noch wenig Hoffnung habe. Wir hatten eine schlechte Nacht. Am Morgen rief meine Frau in der Klinik an und bat darum, ihren Name von „Ferienhof“ sofort auf „VivaVita“ zu ändern, da sie den Gedanken, die Katze würde quasi anonym - ohne einen schönen Namen - sterben, nicht ertragen konnte. Der neue Name war Programm! „Es lebe das Leben=Viva Vita“ erwachte am Nachmittag aus dem Koma! Das war natürlich eine Riesenfreude, in die sich aber schnell Nachdenklichkeit und Besorgnis mischte.

VivaVita war nämlich nach dem Aufwachen total hilflos und blind. Durch den allzu langen Sauerstoffmangel im Gehirn waren sehr viele Zellen abgestorben, die sich nur über einen sehr langen Zeitraum regenerieren würden. In der Klinik mußte sie einen Monat lang bleiben, bis sie die ständige Medikamentengabe durch einen Venenkatheter nicht mehr benötigte.

Als sie schließlich entlassen wurde und zu uns kam, mußten wir sie die ersten Wochen in einem Badezimmer einsperren, da sie alles, was sie als Kätzchen gelernt, vergessen hatte - auch die angeborene Katzenhygiene. Sie kannte keine Menschen, keine anderen Katzen, keine Möbel, alles war neu für sie ….und äußerst bedrohlich, denn sie war ja blind geworden!

Durch das lange Koma waren die Prozesse im Gehirn so beeinträchtigt worden, daß die Eindrücke ihrer durchaus funktionierenden Augen nicht mehr verarbeitet wurden. Damit konnte sie nur - und auch das natürlich nur sehr verworren und eingeschränkt - ihr Gehör, ihre Nase und ihren Tastsinn nutzen. Aber alle Referenzpunkte in ihrem Gehirn zu diesen Sinnen, also was bedrohlich und was gut war, waren verloren und mußten neu aufgebaut werden.

Das unmittelbare Resultat waren unglaubliche Angst und Aggressivität. Blindlings attackierte sie jeden, den sie roch oder hörte mit äußerster Wut. Mit Zischen, Fauchen, Beißen und ausgefahrenen Krallen sprang sie uns an. Es dauerte ein paar Wochen, bis sie etwas ruhiger wurde und auch lernte, wieder ihr Kistchen zu benutzen. Mit grosser Vorsicht konnte man sie auch schon mal ein wenig streicheln. Als sie dann nach ein paar Monaten das erste Mal wieder richtig schnurrte, haben wir uns natürlich riesig gefreut. Doch man mußte aufpassen, denn von Zeit zu Zeit wurde sie von einer Sekunde auf die nächste ungeheuer aufgeregt, ja „explodierte“ förmlich und kämpfte mit aller Kraft gegen einen unsichtbaren Feind, mit lautem Zischen und Knurren, Sprüngen in die Luft, Pfotenschlagen und gefletschtem Gebiß. Kam man ihr bei diesen Luftkämpfen versehentlich zu nahe, wurde es blutig.

Die Ärztin sagte uns, daß die Blindheit sicher ein halbes Jahr aber vielleicht auch ein ganzes Jahr anhalten könnte und sich sogar schlimmstenfalls gar nicht geben würde. Da wir schon blinde Katzen gehabt hatten, die offensichtlich trotz dieser schweren Behinderung noch Freude an ihrem Leben empfanden, schreckte uns die Prognose weniger als erwartet.

VivaVita hatte einen unfokussierten, in sich gekehrten Blick, war aber umso intensiver mit ihrem kleinen Näschen dabei, alles aufs Genaueste zu untersuchen. Auch ihre Ohren drehten sich wie Radarschirme ständig in alle Richtungen. Mittels ihrer Barthaare lernte sie schnell, Kollisionen mit Möbeln, Wänden und Türen zu vermeiden. Nur das von ihr vor dem Koma so geliebte Springen ging nun nicht mehr und sie machte bis zu ihrem Tode hier auch keine wirklichen Fortschritte. Höher als auf eine Couch ist sie in den vier Jahren ihres verbleibenden Lebens nicht mehr gesprungen.

Aber ganz allmählich wurde deutlich, daß ihr Gehirn wieder die Augensignale verarbeiten konnte. Sie konnte einem direkt in die Augen schauen und dabei im Raum verfolgen. Auch ihre Luftkämpfe wurden seltener und weniger heftig, obwohl sie nie ganz aufhörten.Dafür wurde sie aber immer zärtlicher und dankbarer. Sie lebte mit zwei anderen Katzendamen, nämlich Rin-Tin-Tin und Miss Mogli und dem kleinen Miracolo zusammen, der auch fast blind war, und mit denen sie sich bis auf kleine gelegentliche Reibereien sehr gut verstand. Zusammen mit diesen drei war sie tagsüber im großen 100qm Wohnzimmer im ersten Stock mit eigener großer Terrasse eingesperrt. Dort frühstückte ich immer lange und ausgiebig, damit diese drei auch genügend Streichelzeit bekamen.

VivaVita hatte sich dabei eine ganz eigene, sehr liebenswerte Marotte angewöhnt. Sie kam mit ganz steif aufgerichtetem Schwanz zielstrebig auf mich zu und sobald ich sie am Kopf auch nur ganz zart berührte, ließ sie sich wie vom Blitz getroffen auf die Seite fallen und wollte dann sofort ausgiebigst gestreichelt werden und vor allem immer wieder ihr kleines Köpfchen ganz fest in meine Hand drücken. Manchmal schlief sie dann mit dem Kopf in meiner Hand ein.

Ihr Katzenspielzeug, vor allem die kleinen Kissen mit Katzenminze, liebte sie über alles und konnte sich sehr lange damit beschäftigen. Abends nach der Wachablösung, wenn unsere anderen Katzen im Arbeitshaus eingeschlossen wurden, hatte sie dann zusammen mit ihren drei Spielgefährten freien Auslauf im ganzen Haus und unserem großen 15.000 qm Garten. Anfänglich wagte sie sich nur ganz vorsichtig und ein paar Meter nach draußen, aber Monat für Monat wurde sie tapferer und als ich sie eines Tages im unteren Teil des Gartens entdeckte, freute ich mich sehr, daß sie schon wieder soviel Selbstvertrauen gewonnen hatte. Diese Verbesserungen erstreckten sich aber über mehrere Jahre. Es hat wohl fast drei Jahre gedauert, bis sie wieder einigermaßen „normal“ war, obwohl die Abneigung gegen höher gelegene Plätze und auch die gelegentlichen Luftkämpfe oder auch nur Anfauchen von imaginären Gegnern über die ganze Zeit blieben. Auch ihr Fell, das anfänglich struppig und glanzlos war, wurde ganz langsam immer schöner, dichter und seidiger. Ja, und ein ganz kleines bißchen rundlich wurde sie auch.

VivaVita war ihrer Namensgebung gefolgt und dem Tod sozusagen von der Schippe gesprungen. Sie machte uns viel Freude mit ihrem sonnigen und immer freundlichen Wesen, wenn sie einem keck in die Augen schaute und ihre Streicheleinheiten mit Umfallen einforderte. Alles war wunderbar. Dachten wir.

Ein paar Tage lang fraß sie schlechter und war auch nicht so munter. Da das immer Alarmsignale für uns sind, brachte meine Frau sie sofort in die Klinik nach München. Dort wurde sie ausführlichst untersucht und behandelt, ohne daß man aber feststellen konnte, was ihr eigentlich fehlte. Sie fing wieder an zu fressen und schien auf dem Weg der Besserung. Doch ganz plötzlich innerhalb von wenigen Stunden verschlechterten sich ihre Vitalwerte drastisch und trotz aller Notmaßnahmen starb sie am späten Nachmittag eines grauen Februartages 2011 im Alter von nur fünf Jahren. Es war unfaßbar, daß unsere geliebte VivaVita auf einmal nicht mehr bei uns war.

Wir werden sie nie vergessen können, denn sie war etwas ganz Besonderes.